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Fotografien aus Zımeq

Mein kurdisches Dorf in Dersim, 1983–2019

Mehmet Emir

ISBN: 978-3-99126-337-1
29,5×21,5 cm, 368 Seiten, zahlr. z.Gr.-T. farb. Abb., fadengeheftetes Hardcover m. Schutzumschl. | Text überw. dt., Zsfassungen auch in engl. Spr. & Zazaki
38,00 €
Neuerscheinung

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Leseprobe (PDF)



Kurzbeschreibung

„Fotografien aus Zımeq – Mein kurdisches Dorf in Dersim, 1983–2019“ erzählt bildstark von den vielfältigen Veränderungen eines kurdischen Dorfes über fast vier Jahrzehnte. Es gewährt auch Einblicke in Alltag und Geschichte einer ganzen Region – aus der Perspektive von Mehmet Emir, Fotograf und Wahlösterreicher, aber vor allem einer, der in Zımeq aufgewachsen ist.

“Fotografien aus Zımeq – Mein kurdisches Dorf in Dersim, 1983–2019” tells the visually powerful story of the many changes in a Kurdish village over almost four decades. It also provides insights into everyday life and history of an entire region – from the perspective of Mehmet Emir, photographer and Austrian by choice, but above all one who grew up in Zimeq.

„Fotografien aus Zımeq – Mein kurdisches Dorf in Dersim, 1983–2019“ bi resmanê quvetin xêlê vurrnayîsanê ju dewa kurdî yê çewres serran ra jede ano ra zon. Bi nîyadayîsê fotografvan û hemwelatê Avusturya Mehmet Emîr, ke her çî ra avê Zimeq de bîyo pîl, weşîya rozane û tarixê ju mintiqa yeno verê çiman.


[artedition · Verlag Bibliothek der Provinz]

[Titelvariante: »FOTOGRAFIEN AUS ZIMEQ«]


Rezensionen
Gregor Auenhammer: Leben, einfach leben

„Ich bin seit über 40 Jahren in Wien. Mit 16 Jahren habe ich mich entschieden, die Stadt Elazig und mein Herkunftsland zu verlassen, um in Österreich Fußballer zu werden. Mein Vater war einer der ‚ersten Generation‘, die nach dem Assoziierungsabkommen zwischen Österreich und der Türkei als Migranten nach Österreich zum Arbeiten gekommen sind. Menschen wie mein Vater waren die ersten Werbeträger der westlichen Konsumgesellschaft“, erzählt Mehmet Emir im Vorwort seines melancholischen Fotoalbums. Emirs Traum von einer Karriere als Fußballprofi zerbricht an der Realität wie das in seinem Kopf imaginierte Bild vom Leben im Westen. Fotos, die sein Vater in Briefen an die in der Heimat Zurückgebliebenen geschickt hatte, hatten eine ganz andere Realität vorgespielt; mit Palais, Parks, schönen Anzügen. Als Mehmet Emir zum Vater nach Wien zieht, ist er mit der Wahrheit konfrontiert. Er wohnt wie fast alle Gastarbeiter in einer dreckigen Baracke, zu viert auf 15 Quadratmetern, lebt in Ausgrenzung. Mehmet Emir findet Arbeit in einer Baufirma, asphaltiert Straßen, spielt Fußball, ohne ein Wort zu verstehen. Im Gegensatz zum Vater, der wie seine Kollegen nie daran denken, Deutsch zu lernen, besucht Emir Abendkurse, lernt Deutsch. Wegen der Entfernung – eine „Weltreise“ bedeutend – besucht er immer nur einmal im Jahr seine Familie im Heimatdorf. Während dieser Zeit „zu Hause“, das zunehmend keines mehr ist, dokumentiert er das Dorfleben, den Alltag, Menschen, Hochzeiten, Leben, Tod, Architektur in „seinem Dorf“. Vergänglichkeit wird in seinen Fotografien spürbar, nahbar. Fremd ist der Fremde in der Fremde …

(Gregor Auenhammer, Rezension im Standard-Feuilleton „Album“ vom 15. Februar 2025, S. A 7)


Jenny Legenstein: Sehnsucht nach dem Dorf

Wer kennt Zımeq, ein kleines kurdisches Dorf in der Provinz Elâzığ in Ostanatolien? Es ist der Herkunftsort des Augustin-Autors Mehmet Emir und ist Leser:innen, die «Die Abenteuer des Herrn Hüseyin» verfolgen, aus den Erzählungen Hüseyins/Mehmets bekannt. Fast jedes Jahr besuchte Mehmet sein Dorf im Sommerurlaub, seit er 1981 als 16-Jähriger nach Wien kam. 1983 begann er Zımeq und die Menschen im Dorf zu fotografieren, in Farbe und Schwarzweiß, auf Diafilm, später kommen Video- und Tonaufnahmen dazu. Über 20.000 Bilder entstehen in rund 40 Jahren – ein paar Hundert wählte Mehmet für den Band Fotografien aus Zımeq aus.

Die Bilder zeigen kein Postkartenidyll, kein malerisches, aus der Zeit gefallenes «Dörfli», sondern den Alltag und die Menschen in einer peripheren ländlichen Gemeinde sowie die Veränderungen im Laufe der Jahre. Sinnbildlich für den Übergang könnte ein Foto stehen, auf dem eine alte Frau auf einem Packesel reitet, während im Hintergrund Buben auf einem Traktor rumkraxeln.

Bis zu den Massakern an Armenier:innen und Kurd:innen durch die türkische Armee 1938 war die Region multiethnisch und vorwiegend armenisch besiedelt. Armenische Überlebende wurden deportiert oder emigrierten, über 50 Dörfer verschwanden von der Landkarte. Mehmets Großmutter war eine der alevitisch-kurdischen Überlebenden. Mit einigen der Zeitzeug:innen führte Mehmet Interviews und porträtierte sie. Sakine Çelik, die Frau auf dem Cover, war eine davon.

«Dorfansichten», «Arbeitswelt», «Die Almzeit», «Hochzeiten», «Die Kinder aus Zımeq» sind ein paar der Kapitel des Buchs – zu jedem hat Mehmet einen Text geschrieben, Erinnerungen, Erläuterungen, kurze Porträts einiger Abgebildeter. Der Soziologe Şükrü Aslan steuert eine Sozialgeschichte des Dorfs bei, der Fotograf und Medienkünstler Thomas Freiler setzt sich mit den Fotografien Mehmet Emirs auseinander. Sich selbst stellt Mehmet den Leser:innen am Anfang des Buchs vor. Zımeq und seine Menschen begann er zu fotografieren, weil er im fernen Wien Sehnsucht nach seinem Dorf hatte. Mittlerweile leben nur wenige ganzjährig im Dorf, in der warmen Jahreszeit übersiedeln viele der Dörfler:innen aus der Stadt nach Zımeq. Fast alle der jüngeren Generation leben allerdings dauerhaft in türkischen Großstädten oder im westlichen Ausland und kommen, wie Mehmet, in den Ferien in ihr entlegenes Dorf. Warum? Mehmet sieht viele Faktoren: «Die Kindheit, die sie dort verbracht haben, die Geschichte der Vorfahren, die Ruhe, die Natur, die soziale Verbundenheit, die Möglichkeit, die Kinder frei herumlaufen zu lassen … Hochzeitsfeste im August, bei denen nicht mehr im Dorf lebende Menschen auch gern dabei sind.»

([JL], Rezension im Augustin. Erste österreichische Boulevardzeitung, №620 vom 7. Mai 2025, S. 9)


https://augustin.or.at/wp-content/uploads/2025/05/AUG_620.pdf#page=5


Reinhold Schachner: «20.000 Fotos – na und?»

Mehmet Emir aka Herr Hüseyin dokumentierte rund vier Jahrzehnte den Wandel seines anatolischen Dorfes in Ton und Bild. Ein Fotoband gewährt nun Einblicke in dieses Archiv.

Der Augustin-Kolumnist ist 1981 als Sechzehnjähriger seinem Vater, einem kurdischen Arbeitsmigranten der ersten Generation, nach Wien gefolgt. Enttäuscht von den Arbeits- und Lebensbedingungen eines «Gastarbeiters», versucht er mittels Bildung und Beschäftigung mit Kunst einen anderen Weg als sein Vater einzuschlagen. Immerhin teilt der junge Mehmet mit seinem Vater die Leidenschaft fürs Fotografieren. Hıdır Emir war in seiner Freizeit «Gastarbeiterfotograf», denn er machte an schönen öffentlichen Plätzen Fotos von seinen Kollegen, die sie den Briefen an ihre Familien beilegten.

Aus Sehnsuchtsgründen beginnt Mehmet Emir auf seinen Heimatbesuchen seinen Herkunftsort Zımeq zu dokumentieren. Daraus entwickelt sich ein umfassendes (Oral-History-)Projekt, das auch auf die türkischen Repressionen, Verfolgungen und Vertreibungen von vor allem Armenier:innen und Kurd:innen Bezug nimmt.

Deine Fotos vermitteln den Eindruck, dass sich Zımeq relativ schnell verändert hat.
Mehmet Emir: Für mich ist es wichtig gewesen, Menschen, die viele Geschichten erzählen konnten oder alte Traditionen fortgesetzt haben, zu fotografieren. Diese Traditionen gibt es nicht mehr, obwohl sie einen Sinn hatten. Mit den alten Menschen sind die Traditionen mitbegraben.
Ein Beispiel wäre die Dorfarchitektur. Früher wurden die Häuser aus Materialien, die dort vorkommen, wie Sandstein, gebaut. Diese alten niedrigen Steinhäuser mit bis zu einem Meter dicken Mauern sind auch relativ erdbebensicher gewesen. Sie hatten Flachdächer, die mit einer wasserundurchlässigen Erde bedeckt worden sind. Auf diesen Dächern wurde Gemüse und Obst getrocknet, und man hat sogar darauf geschlafen. Mittlerweile haben fast alle Häuser Blechdächer, die bei Hitze viel Wärme abstrahlen und in der Nacht wenig abkühlen.

Wie heiß wird es in Zımeq?
Also, das Dorf liegt auf 1.700 Meter, die Berge sind bis zu 2.500 Meter hoch. Obwohl das Dorf so hoch liegt, kann es knapp über 40 Grad heiß werden. Im Winter wird es dementsprechend kalt, und es gibt sehr viel Schnee, bis zu drei Meter. Rundherum sind sehr viele Staudämme errichtet worden. Die Stauseen haben auch das Klima total verändert. Es ist jetzt viel feuchter. Davon abgesehen wurden viele Dörfer, die an den Flüssen gelegen sind, geflutet. Auch für die Tierwelt sind die Stauseen eine Katastrophe, entweder haben sie vorher dort gelebt oder ihre Wege wurden dadurch abgeschnitten.

Du schreibst, dass du schon als Kind mit den Tieren aus dem Dorf in die Berge gehen musstest und hattest daher auch öfters Begegnungen mit Wölfen. Wie siehst du mit deiner Wolf-Erfahrung die Diskussionen in den letzten Jahren um Wölfe in Österreich?
Ich finde sie lächerlich, weil es nicht viele Wölfe sind. Wahrscheinlich hat es mit der religiösen Tradition meiner Region zu tun, wo Wölfe als Wesen betrachtet werden, die auch leben müssen und nicht uns Menschen gehören. In Österreich wird ein großes Tamtam gemacht. Ein Rudel Wölfe kann im Winter, wenn es zwei, drei Wochen nichts gefressen hat, gefährlich werden, aber da sind die Tiere eh im Stall. Ich finde es schön, wenn es Wildtiere gibt. Eine totale Kontrolle über alles geht nicht. Übrigens, die einzigen Tiere, vor denen man in Österreich Angst haben muss, sind Kühe.

Welche Form der Landwirtschaft wurde bzw. wird im Dorf betrieben?
Große Felder sind nicht möglich, daher sind die Tierzucht und der Käseverkauf sehr wichtig gewesen. Mitte der 1980er-Jahre wurden auf den Bergen militärische Kontrollpunkte gebaut. Im Zuge dessen ist es auch verboten worden, im Sommer die Tiere auf die Almen zu treiben.
Von den Erzeugnissen aus dem Dorf konnten aber nicht ganze Familien, die oft sehr groß gewesen sind, leben. Daher wurden Kinder, meist waren es die Burschen, zum Arbeiten in Städte geschickt. Es sind auch Leute studieren gegangen und nicht mehr zurückgekommen. Aber auch aus politischen Gründen sind viele von hier weggegangen.

Wann bist du das letzte Mal in Zımeq gewesen?
Letzten Herbst, in der Zeit der Wildbirnen. Sie wachsen von selber und jede hat einen eigenen Geschmack. Früher bin ich immer im Sommer dort gewesen, denn viele, die von Zımeq weggegangen sind, kommen im Sommer zurück. Ich wollte diese Leute treffen. Das letzte Mal bin ich aber bewusst hingefahren, als wieder alle weg waren. Und es war das erste Mal ohne Fotoapparat. Es war wunderschön, denn der Fotoapparat ist meist ein Hindernis zwischen mir und den Fotografierten gewesen. Ich habe seit 1983 zirka 20.000 Fotos vom Dorf gemacht. Es war schön, sie gemacht zu haben, aber wenn ich jetzt darüber nachdenke: 20.000 – na und?
Bei mir war es die Sehnsucht, warum ich begonnen habe, das Dorf zu fotografieren. Manche nehmen Erde mit, manche nehmen Sand vom Meer mit, ich habe Fotos mitgenommen. Ich habe bewusst ältere Menschen oder Orte, die mir wichtig gewesen sind, fotografiert. Oder Häuser, das hatte mit meiner Situation in Österreich zu tun. Ich habe schwer gearbeitet und schlecht gewohnt. Anfangs war es eine Enttäuschung. Es hat auch damit zu tun, wie die erste Generation von Gastarbeitern Österreich beworben hat. Wenn mein Vater oder einige seiner Kollegen aus Frankreich und Deutschland ins Dorf zurückgekommen sind, haben sie Geschenke mitgebracht. Jedes Mal sind sie mit einer anderen technischen Errungenschaft gekommen, und sie hatten Geld. Sie haben eine tolle Werbung für Europa gemacht, daher habe ich als Sechzehnjähriger meinen Vater nicht einmal danach gefragt, wie er wohnt.

Warum bist du trotz dieser Enttäuschung in Wien geblieben?
Es hatte wohl mit Stolz zu tun. Wäre ich wie mein älterer Bruder auch zurückgegangen, hätte ich mich als Versager gefühlt, es in Europa nicht geschafft zu haben. Mit dem ersten verdienten Geld habe ich Deutschkurse besucht, denn ich wollte aus meiner schwierigen Situation rauskommen. Dann ist zu bedenken, dass ich ein Jahr nach dem Militärputsch [1980, Anm.] nach Österreich gekommen bin. Wäre ich in der Türkei geblieben und hätte ich mich auch nur ein bisschen politisiert, wäre ich sicherlich im Gefängnis gelandet. Oder wie andere tot.

Bist du auf deinen Vater angefressen gewesen, weil er ein vermeintlich schönes Leben in Wien präsentiert hatte?
Am Anfang schon. Ich habe gemerkt, wie er gelebt hat, ist nicht mein Leben. Er hat 25 Jahre in einer Baracke gelebt, mit einem Schlafzimmer mit 15 Quadratmeter zu dritt.
Ich habe mich mit Musik beschäftigt, ich habe Theater und Fußball gespielt. Ich habe Deutschkurse und zweieinhalb Jahre die Abend-HTL besucht. Er hat mich eher daran gehindert, diese Sachen zu machen. Er wollte, dass ich Geld spare und mir am Naschmarkt einen Gemüseladen kaufe.

Ich finde es erstaunlich, was du alles neben deinem Job am Bau gemacht hast, zum Beispiel Musik auf professionellem Niveau.
Zuerst bin ich in einem türkischen Verein für Studenten und Arbeiter jedes Wochenende gewesen. In einem der Nebenräume habe ich orientalische Musik mit Saz und Perkussion geübt. Später habe ich bei Gülistan angefangen und mit Lakis & Achwach gespielt. Ich war Substitut bei der Tschuschenkapelle und habe immer wieder mit Lena Rothstein gearbeitet.

Auch in der Gastronomie hast du gearbeitet.
Im KuKu habe ich als Putzmann angefangen, dann an der Bar gearbeitet und später als Koch. Letztlich bin ich dort als Musiker und Schauspieler rausgegangen, weil viele Musiker dort gewesen sind. Im KuKu hatte ich übrigens auch mein erstes Konzert. Ich war nicht großartig, aber meine Musik war anders.

Schließlich hast du auch noch neben der Arbeit ein Kunststudium absolviert.
Ja, kontextuelle Malerei. Dabei werden verschiedene Kunstrichtungen zusammengeführt. Nach dem Abschluss erwartet man sich, dass sich alle Türen öffnen und alle mit einem Projekte machen wollen. Dem ist aber nicht so.

Ich habe dich noch vor deinem Studium als Jugendbetreuer und freier Fotograf kennengelernt.
Ich habe 14 Jahre lang in einem Jugendzentrum mit 90 Prozent migrantischen Jugendlichen gearbeitet. Ich war für sie Vorbild, Vaterersatz und so weiter und so fort.

Dann hat dich der Augustin vom Jugendzentrum als Sozialarbeiter abgeworben.
Zunächst hat mich Robert Sommer [Augustin-Mitbegründer, Anm.] angerufen, ob ich nicht einen Text zum Spruch von HC Strache «Wien darf nicht Istanbul werden» schreiben würde. Mein Text hatte den Titel «Istanbul darf nicht Wien werden» und hat anscheinend gut gefallen. Daraufhin kam Robert mit der Idee zu mir, eine Kolumne in Form von Briefen [zuerst an den Vater, später an die Mutter, Anm.] zu schreiben. So bin ich zum Schreiben gekommen, was ich ursprünglich gar nicht vorhatte. Das Schöne ist, ich kann schreiben, wie ich als Migrant Wien bzw. Österreich erlebe [die aktuelle Kolumne heißt «Die Abenteuer des Herrn Hüseyin», Anm.]. Ich widerspiegele eine Gesellschaftsschicht, mit der man eher Berührungsängste hat. Ich weiß, dass ich von unten komme und habe daher wahrscheinlich eine gewisse Empathie.

Erlebst du im Alltag noch Diskriminierung?
Nein, interessanterweise nicht mehr. Wahrscheinlich, weil ich schön langsam alt werde – ich bin jetzt 61 und schau nicht mehr gefährlich aus. Ich versuche, mich gut zu artikulieren, um damit zu zeigen, dass ich hierhergehöre, und um mir ein bisschen Achtung zu schenken.

Hattest du schon länger den Plan, aus deinen Aufnahmen aus Zımeq einen Fotoband zu machen?
Vor Jahren hatte ich sogar schon einen Vertrag bei einem Verlag unterschrieben, doch dieser ist dann zurückgetreten. Der Verleger hatte wohl die Befürchtung, das Buch würde sich nicht gut verkaufen. Jetzt hat es sich im Rahmen vom ZOZAN-Projekt [ein Projekt zu traditionellen Lebensweisen und soziopolitischen Transformationen in kurdischen Alltagskulturen, Anm.] ergeben. Es wird noch ein zweites, wissenschaftlicheres Buch erscheinen.

Ist dir die Auswahl aus deinen rund 20.000 Fotos sehr schwergefallen?
Ja ja! Schließlich habe ich 500 für 368 Seiten ausgewählt – es ist schon ein Ziegel geworden. Sehr gut gefällt mir etwa das Foto auf der letzten Seite: eine schöne Landschaft, die aber auch eine Hölle auf Erden sein kann. Sie ist Ort eines Massakers [an Armenier:innen und Kurd:innen im Jahr 1938, Anm.]. Obwohl mein Großvater drei Jahre dem türkischen Militär gedient hat, wurde er dort nur zwei Wochen nach seiner Rückkehr vom Militärdienst massakriert. Ich habe auch viele Video- und Audioaufnahmen mit Leuten, mit denen ich über diese Zeit gesprochen habe.
Ich werde aber in Zımeq nicht mehr fotografieren, denn es hat sich erübrigt, weil jetzt jeder ein Handy hat.

(Interview: Reinhold Schachner, erschienen im Augustin. Erste österreichische Boulevardzeitung, №620 vom 7. Mai 2025, S. 6 f.)


https://augustin.or.at/wp-content/uploads/2025/05/AUG_620.pdf#page=4


Emre Şahin: Die schwierigste Zeit

Mehmet Emirs beeindruckendes Langzeitprojekt über das kurdisch-alevitische Dorf Zımeq.

»Was man als Migrant in Österreich macht, das kommt in Deutschland gar nicht an«, sagt Mehmet Emir, und so ganz Unrecht hat er nicht. In deutschen Medien liest man, wenn, dann von Korruption und/oder der FPÖ, und viele glauben immer noch, Red Bull Salzburg sei seit Jahren ununterbrochen Fußballmeister. Zeit für Updates. Mehmet Emir, der unter anderem als Musiker und als Schauspieler tätig war und heute als Digitalisierungsexperte an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften arbeitet, hat Anfang des Jahres ein Fotoband über sein Heimatdorf veröffentlicht. »Fotografien aus Zımeq. Mein kurdisches Dorf in Dersim. 1983–2019«, erschienen im Verlag Bibliothek der Provinz, bietet auf 368  Seiten einen Einblick in das kurdisch-alevitische Leben auf dem Land. Knapp 40 Jahre lang hat Emir sein im Norden Kurdistans bzw. im Osten Anatoliens gelegenes Dorf fotografiert.

Entstanden ist diese einzigartige Langzeitdokumentation aus Sehnsucht. Denn Mehmet Emir, geboren 1964, verlässt sein Dorf mit 16, um in Österreich Fußballer zu werden. Er folgt seinem Vater, der in Wien als sogenannter Gastarbeiter schuftet und seiner Familie im Dorf mittels Fotos das Leben in Österreich als ein Paradies verkauft, was es nicht ist. Auf den Bildern, die er den Verwandten schickt und die im Buch ebenfalls zu finden sind, sind ausschließlich schöne Kulissen zu sehen, wie Paläste und Rosengärten. Dass sie wenig mit der Alltagsrealität zu tun hatten, lernte Mehmet Emir schnell. Angekommen, musste er ebenfalls in die Fabrik und lebte mit seinem Vater fortan in einem Barackenzimmer. Zum Fotografieren kommt er, weil sein Vater Apparate ersteigern ließ, um sie in der Türkei weiterzuverkaufen.

Mehmet Emir nimmt die Leser mit auf eine Reise in sein Dorf und durch die Jahrzehnte voller Veränderungen. Vor jedem Kapitel steht eine Einführung in das jeweilige Thema. Da geht es etwa um die Sozialgeschichte des Ortes, um die Arbeitswelt, die Almzeit und die Hochzeiten (»Anzeigen bei der Polizei wegen Lärmbelästigung gab es nie«). Oder um die Überlebenden des 1938 durch die Türkei verübten Genozids in der kurdisch-armenischen Region. Emirs Großmutter ist eine von ihnen. Der Völkermord ist das kollektive Trauma der Dersimer. Auf den Porträtfotos ist den Älteren die Erschöpfung vom Leben ins Gesicht geschrieben.

Zımeq ist ein Dorf von Überlebenden, ein Dorf, das sich der Vernichtungspolitik der türkischen Regierung gegen alles Nichttürkische widersetzt hat. Die Fotos Mehmet Emirs zeugen davon. Eine besondere Stärke des Buches ist es, dass ausführlich über die armenische Minderheit des Dorfes berichtet wird. Zugleich korrigiert Emir das in Dersim herrschende Selbstbild, wonach die kurdischen Aleviten den Armeniern, die den jungtürkischen Genozid von 1915 überlebt hatten, selbstlos Schutz geboten und sie immer gut behandelt hätten. Er lässt die Armenier zu Wort kommen.

Die Provinz erfährt während der Jahrzehnte einen Umbruch: Emir begann kurz nach dem Militärputsch 1980 zu fotografieren. Lange bevor es die kurdische Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) gab, kämpften in den Bergen Dersims bereits maoistische Guerillagruppen gegen die türkische Armee. 1984 rief die PKK zu den Waffen, anschließend wurden unzählige Dörfer in Dersim durch die türkische Armee geräumt und verbrannt. Doch Zımeq überstand auch diese Zeit. Fotos von Guerillakämpfern oder dergleichen gibt es nicht, was dem Buch sogar gut tut. Im Mittelpunkt stehen hier die Menschen, ihr Alltag und das Dorf. Keine politische oder gar religiöse Symbolik, mit der die Region nicht selten exotisiert wird. Gefragt, wieso er die revolutionären Bewegungen ausgespart hat, sagt Emir: »Ich habe auch Fotos aus den 90er Jahren, das waren die schwierigsten Zeiten, ich bin häufig angehalten worden. Da meine Familie aber dort lebte, ich noch öfters hin musste – na ja, da geht es sehr schnell, dass man festgenommen wird.«

Die Berge des Dorfes wurden zum militärischen Sperrgebiet. Ähnlich wie die Provinz Dersim (»Tuneeli«) erhielt auch Zımeq einen türkischen Namen, um das kulturelle Gedächtnis der Bewohner auszulöschen. Offiziell heißt das Dorf heute Çıgırlı. Mehmet Emir hat mit seinem Fotoband aber dem Dorf Zımeq ein Denkmal gesetzt.

(Emre Şahin, Rezension im Feuilleton der Jungen Welt № 182/25 vom 8. August 2025, S. 10)


https://www.jungewelt.de/artikel/505734.fotografie-die-schwierigste-zeit.html



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